Es war einmal, wie es niemals war, da fand ein riese ein mädchen und nahm es mit in sein haus. dort mangelte es ihm an nichts, denn der riese sorgte für es, obgleich er selten bei ihm sein konnte. er grub ihm einen brunnen, seinen durst zu löschen, gab ihm brot, seinen hunger zu stillen und zucker für sein herz. rund um das haus streute er glassamen, aus denen abertausend blüten ihre köpfe erhoben und bei seinem kommen und gehen klimperten, als riefen alle kirchenglocken im land zu einer einzigen großen hochzeit oder totenmesse. sogar eine lehrerin, die es in allem unterweisen sollte, was ein mädchen wissen muss und ein riese nicht zu wissen braucht, rief er herbei. ihr name war frau wahnsinn. sie kam, sooft der riese fort war, und die gläsernen nelken klirrten nicht, denn ihr schritt war zu leicht. wenn der riese da war, war er gut und sanft, und das mädchen durfte ihm die kletten aus dem bart zupfen, ohne dass er je sein schweigen gebrochen hätte. doch sobald er fort und frau wahnsinn im haus war, die zuckerstücke verhexte, so dass der tee ganz salzig wurde, dann wagte das mädchen es nicht, ihn zu rufen, denn wenn er einmal nicht zurückkäme, käme er nie wieder, wie sie wusste. so saß sie lieber stumm mit ihrem ruf in der kehle und ihrer angst hinter der stirn über dem salztee und wartete und die angst tropfte in die tasse und sie wartete, wartete auf das klirren der nelken und den riesen, und frau wahnsinn sang hinter den schränken, immerzu.
Das dach des riesenhauses aber war nicht etwa mit ziegeln gedeckt, sondern mit aberhunderten von vögeln, die sich mit ausgebreiteten schwingen im gebälk niederließen. wann immer einer fortflog, nahm ein anderer seinen platz ein. auf diese weise hielten sie winde und wasser, hitze und hagel fern. oft stellte das mädchen sich vor, wie es wäre, auf diesem warmen, rauschenden dach zu liegen, die arme links und rechts in die weichen federn gegraben. doch die furcht, fortgetragen zu werden, hielt sie ab, denn fort wollte sie nicht. wo hätte der riese sie denn finden sollen, wenn sie nicht im haus bliebe?
Einmal, als sie nach langem spiel beisammen unter dem dach ausruhten, erzählte sie ihm vom rinnen des salzigen tees und frau wahnsinns fürchterlichem gesang. “wenn du fort bleibst” bat sie, “so sende mir doch eine taube, damit ich weiß, dass ich nicht vergeblich bange, denn du bist mir das liebste auf der welt.” da hob der riese die hand, und als hätten die erdgründe atem eingesogen, erhoben sich überall die schwalben, rotkehlchen, fasanen, raben und schwäne, vom größten bis zum kleinsten, und durch die kahlen dachstreben wurde die nacht sichtbar, über und über mit lichtern bestreut. sie wünschte sich so einen stern, sie wünschte ihn sich so sehr, wie sie sich noch nie etwas gewünscht hatte. und als ob er ihr sehnliches verlangen spürte, begann der riese zu wachsen, größer und größer wurde er, bis sie den himmel nicht mehr sah vor lauter riese, bis eines seiner barthaare den umfang eines sehr alten kirschbaumes hatte, so groß wurde er. und dann, dann fiel etwas in ihre hand, ein steinchen, kaum stecknadelkopfgroß. wenn sie darüberfuhr, gab es noch eine leichte wärme ab.
Fortan trug sie den stern unter ihrer zunge: um ihn nicht zu verlieren, auf dass sie bei jedem wort an ihn erinnert würde. “gib bloß acht, dass du ihn nicht verschluckst, dummchen!” belehrte frau wahnsinn sie “sonst ergeht es dir wie den engeln. die engel essen die sterne. sie sind ihnen das allerköstlichste, das allersüßeste, aber sie sind auch unvorstellbar schwer. isst ein engel zu viele sterne, dann wiegt er bald mehr, als seine flügel tragen wollen, und stürzt herab. von zeit zu zeit finden die fischer an den nordmeeren einen engel in ihren netzen.”
Mit dieser und solcherlei reden sähte frau wahnsinn unruhe im herzen des mädchens. zuweilen glaubte es beinahe, dass der riese gar keiner war, sondern ein winziger, kahlköpfiger alter, der in der brust des riesen saß und ihn herbeiwünschte: seine riesenschultern, seinen riesenbart, seine riesenaugen und seine riesentränen. dann wusste sie nicht, ob sie ihn anrühren durfte. griffe sie einmal an seine brust, und hindurch, und hielte statt des riesenherzes den zappelnden, geifernden alten, verschwänden am ende noch beide vor scham, obwohl sie doch beide hätte lieben können, wie sie dachte. warum auch sollte sie den alten im riesen weniger lieben als ihn selbst?
Und als hätte sie es heraufbeschworen, sah sie eines tages einen schatten zwischen den fenstern hinhuschen und wusste, dass der riese verschwunden war, noch bevor die vögel fortflogen. die nelken wussten es, der brunnen wusste es, wie hätte es ihr entgehen sollen? ein alter hatte sich im dachboden versteckt, doch selbst der wusste es. es grub sich in jeden balken und die dachfenster knarrten vor schmerz. frau wahnsinns gesang war verstummt.
Das mädchen gab den vögeln eine handvoll brotsamen, goß die nelken, reinigte den brunnen, legte dem alten ein zuckerstück vor seine dachkammer. sie kochte tee, doch als sie trinken wollte, war er ihr zu süß. sie suchte im ganzen haus nach frau wahnsinn, doch die war fort. “es gibt nichts mehr zu tun” sagte sie zum brunnen “niemanden, auf den man warten könnte.” sie schüttelte ihr herz und fand es leer. “wenn ich bleibe” gestand sie den vögeln “werde ich bald hinter den schränken singen, oder in eine riesin kriechen und allzeit zittern”.
So brach sie auf, den verschwundenen riesen zu suchen. doch keiner konnte ihr den weg weisen. die fischer kannten ihn nicht. die krämerinnen und die jungen huren in den häfen kannten ihn nicht, und was ihr die brandung zuflüsterte, wusste sie nicht zu deuten. die ratschläge der bettler gingen genauso fehl wie die der fürsten. die berge und lichtungen wahrten ihr schweigen. das mädchen war müde, fast aller mut hatte es verlassen, da klagte sie ihre not einem alten landstreicher. der wusste rat: “das kostbarste hast du verloren? dann musst du den dieb aufsuchen. nur er kann es genommen haben. er schleicht sich in die häuser und stiehlt das wertvollste. zahllose hat er bestohlen, zahllose ziehen umher, um es es wieder zu erlangen. keinem ist es je gelungen.”
Sie traf den dieb im hintersten winkel seines hauses, das leer war bis auf das blanke gemäuer. er saß gegen die wand gelehnt, ein loser mauerstein unter bröckelnden geschwistern. sein gesicht war wie ein flacher stein, seine miene die einer statue, die gezeiten von jedem hauch von kummer oder freude reingewaschen haben. nur seine augen glühten wie von einem lange unterdrückten gelächter. “wer hat dich hergeschickt?” fragte er, “einer der wanderer? ‘wenn du etwas verloren hast’ haben sie dir gesagt, ‘dann such den dieb auf’, das haben sie doch gesagt, nicht wahr? oh, sie wissen, wo sie suchen müssen. sie spüren es, wenn ich in einem ihrer häuser war, jeder im land kennt mein gesicht. sie betreten eines abends ihre küche und wissen: der dieb war hier. dann beginnen sie zu suchen, was ich gestohlen habe. das wichtigste, erzählen sie, entwende ich. sie zermürben sich ihre köpfchen, was es sein könnte. der sekundenzeiger der alten kuckucksuhr? — denken sie. doch der ist da. der schuh meiner jüngsten tochter! der an der herdstelle lag! — fällt es ihnen ein. doch der ist da. es lässt ihnen keine ruhe. etwas ist fort, denken sie, etwas fehlt. und sie ziehen los. man trifft sie überall, in jedem landstrich, jeder gasse, sie durchkämmen alle städte, um wiederzufinden, was ich genommen habe.”
das mädchen musterte das nackte gestein und die hose des diebes, in die keine taschen genäht waren.
“früher oder später kommen sie alle hierher. so wie du. sag mir, kleinchen, was suchst du?” sein mund verzog sich, als erwartete er, sogleich einen schwank erzählt zu bekommen.
“meinen riesen.” erwiderte sie. “er verschwand.”
er schwieg einen augenblick. “wenn das so ist, dann bist du hier falsch. mit verschwundenen, seien es menschen oder riesen, habe ich nichts zu schaffen. du musst zum menschenfresser gehen. er lebt nicht weit von hier. ich würde dich bringen, aber ich verlasse mein haus nie.”
sie nickte und brach auf, allein. den ganzen weg hörte sie aus dem diebeshaus ein geräusch, das klang, wie wenn einer versucht, nicht allzu laut zu lachen.
Alsbald begegnete sie dem menschenfresser. er war das sanfteste geschöpf, das sie je gesehen hatte. schön wie abendlicht durch das seidennetz einer spinne war er, jede seiner gesten zierlich wie die schwirrenden flügel einer motte, das rund seiner augen schien ewig jung wie der innerste ring eines baumes. sie musste ihn immerzu ansehen, und auch seine blicke haschten zart nach den strähnen ihres haares, als wollten sie es entwirren. beinahe hätte sie ob des schauens das fragen versäumt.
“dein riese?” erwiderte der jüngling “oh, ich war sehr hungrig. sehr einsam und sehr hungrig. doch auf wen ich auch zutrat, wen ich auch um ein auge oder eine zehe bat: sie flohen alle. keiner, weißt du, will wirklich etwas hergeben. sie alle wollen ganz bleiben.” er seufzte wie ein ganzer himmel voll erlöschender sterne. “bis auf deinen riesen. er gab mir seine zunge. ‘mit dieser zunge’ gestand er mir ‘ist viel dummes gesprochen worden. ich bezweifle, dass sie aus diesem meinen mund noch etwas sehr kluges herausbringt. du sollst sie haben.’ – und ich verschlang sie an einem stück. wie war das köstlich!’ –
“lügner.” zürnte das mädchen “du hast sie doch noch!” doch der menschenfresser schnaubte nur milde.
“was gibst du mir?” fragte er, “was gibst du mir, wenn ich dir den weg zum riesen weise? was ist es dir wert, ihn zu kennen? überlege gut, denn wenn, was du mir geben willst, mich nicht sättigt, so erfährst du ihn nie.”
“du kannst haben, was meinen sehnlichsten wunsch birgt.” erbot sie ihm.
der menschenfresser erbrach ein lachen. “dein herz? so ein kleines dingelchen, so ein hefeklöschen! kindchen, wenn du es hergeben willst, so ist es doch nichts wert! davon werde ich nie und nimmer satt!”
“langt es nicht, so habe ich den grund meines kummers zugleich verloren.” antwortete sie. und sie gab ihm den stern, den sie unter der zunge getragen.
Und er aß ihn. da wurde er satt, so unvorstellbar satt, wie er es noch nie zuvor gewesen war. er wollte sich nie wieder regen. so sehr er grübelte, ihm fiel nichts mehr ein, worauf er lust gehabt hätte: die zartesten dirnenknöchelchen, das sahnigste schulterblatt, der saftigste kinderschenkel, nichts weckte mehr seinen appetit. als das mädchen sich fortschlich, endlich des weges kundig, durchfuhr sie mit jedem schritt das unsägliche geheul, mit dem er den verlust seines hungers beklagte.
Lange währte ihre wanderschaft, sie hätte nicht vermocht, die zahl der wochen zu nennen. da gelangte sie während eines großen regens an einen hain voll alter vogelscheuchen. die stumpen ihrer hölzernen glieder staken gegen die finsternis. manche waren einmal menschen gewesen, manche schienen von gänzlich anderen wesen abzustammen und verbargen ihre fremdartige natur mehr schlecht als recht unter fadenscheinigen lumpen. das unwetter zerrte und rüttelte an ihnen, nichts bot ihnen schutz. sie wanden sich unter den böen. ihre stimmen durchschnitten die luft, schrill wie die von frau wahnsinn. unausgesetzt wisperten und mauschelten sie “… er hat es uns genommen! genommen hat er es uns, dieser räuber, dieser menschenfresser, dieser dieb, hat es fortgenommen, fort von uns …”.
Wie sie die abgerissenen gestalten so traurig an ihre stöcke gefesselt sah, ergriff sie das seil, mit dem der strohmann vor ihr gebunden war, löste die knoten, und mit einem zischen stob er hinauf in den sturm. dasselbe tat sie beim nächsten, und wieder beim nächsten, so ging es fort und fort. alsbald schwirrten zu allen seiten die knarzenden gesellen, ihre lange erlahmten arme und beine schwangen frei im wildem takt der winde um sie her. sie hatten keinen wein als den niederstürzenden regen, keine musik als das bersten der tropfen, und begingen doch das rauschenste fest. und wie sie noch tanzten, zerfledderten die sturmböen sie mehr und mehr, rissen ihre grob geschnitzten, wurmstichigen leiber in fetzen, die für sich weitertanzten, nicht weniger vergnügt, sich herumwarfen, mit den lüften auf und nieder wirbelten: hier ein strohhut, dort ein pirouetten drehender rumpf. der donner wob sich in ihren jubel. das alles war so schrecklich und so schön, dass sie nicht länger hinsehen mochte, auch war sie sehr erschöpft, ihre hände wundgeschabt vom reisig der seile, sie sehnte sich nach ruhe … da vernahm sie jäh ein leises klirren. es erinnerte sie an etwas, etwas, worauf sie gewartet hatte, doch kaum war es ihr eingefallen, fiel tiefer schlaf über sie.
Als sie erwachte, war das rauschen des regens einem anderen rauschen gewichen. sie blinzelte durch schlafverklebte wimpern. erst meinte sie, in den silhouetten, die sich gegen das dunkel abhoben, die vogelscheuchen zu erkennen, doch bald bemerkte sie, dass es diesmal vögel waren, die auf und nieder schwebten. wann immer einer fortflog, nahte schon ein anderer, um seinen platz einzunehmen, damit sie nicht von ihrer bettstatt stürze: denn sie lag inmitten weicher, sich regender federn, hoch oben, auf dem dach des riesenhauses. neben ihr, auf einem balken, saß der riese. er war sehr viel jünger geworden oder sie sehr gealtert. nur wenige meter trennten sie von seinem großen gesicht. zum ersten mal sprach er zu ihr. „wo warst du? ich habe auf dich gewartet. immer habe ich ein kind finden wollen. du bist, wie ich dich mir herbeigewünscht habe, mit deinen mädchenfüßen, deiner mädchenstirn, deinen mädchenaugen und deinen mädchentränen.“ und er hob seine riesenhand, um sie zu berühren.
In diesem moment begannen die leiber der vögel unter ihr zu schwanken. überall erhoben sich die schwalben, rotkehlchen, fasanen, raben und schwäne, vom größten bis zum kleinsten, und trugen sie mit sich. langsam stieg sie aufwärts, der nacht entgegen. „spring doch!“ rief der riese, „ich fange dich auf!“ sie richtete sich auf, um ihm folge zu leisten, sich niederfallen zu lassen in seine riesenarme. im letzten moment hielt sie inne. er war einmal verschwunden, was, wenn sie spränge, und er wäre plötzlich fort? über ihr glänzte das firmament. sie dachte an ihren stern, den sie dem menschenfresser hatte geben müssen. „warte noch etwas“ erwiderte sie dem riesen, „ich habe etwas verloren, dass ich wiederholen muss.“ und während sie höher und höher stieg, um einen neuen stern zu suchen, und obwohl sie kein einziges mal herabsah, konnte sie erkennen, wie der riese kleiner und kleiner wurde, bis die nacht ihn verschluckte.
(c) Juliane Liebert, 2006